Erschienen im Netpol-Digest 18 (1999-12-01).

Zurück in die Gegenwart

Geträumt habe er, so H.P. Lovecraft, von einem Buch mit dem Titel »Necronomicon«. Ob Neal Stephenson vom »Cryptonomicon«, einer Lose-Blatt-Sammlung kryptographischer Methoden des amerikanischen Geheimdienstes, auch nur geträumt hat, ist ungewiß. Lovecrafts Idee vom »Buch der Toten« mutierte zum Mythos. Zumindest dazu taugt auch Stephensons Vorstellung vom »Buch des Verborgenen«.

In »Snow Crash« und »Diamond Age« spann Stephenson die möglichen Entwicklungen heutiger Technologien unterhaltsam in die Zukunft. In seinem neuen Roman »Cryptonomicon« befaßt er sich mit einer der Voraussetzungen seiner früheren Geschichten: der Kryptographie.

Randy Waterhouse, ein Netzwerker, soll für seine Firma einen Internet-Knoten in Manila aufbauen. Daraus entwickelt sich die Idee, statt dessen eine Datenoase (s. Netpol 13) bereitzustellen. Waterhouse pflegt den Umgang mit Bekannten aus dem realen Netzleben: Sein Rechner bootet Finux (Linux), er liest und schreibt auf der Mailing-Liste der Secret-Admirers (Cypherpunks) und verschlüsselt - natürlich - seine E-Mail mit dem Programm Novus Ordo Seclorum (PGP).

Die Verweise wirken anfangs belustigend. Leider stellt sich schnell heraus, dass Stephenson mit der Technik ein Problem hat. Bislang überlies er es den Lesern, sich die Einzelheiten der von ihm skizzierten Apparaturen auszumalen. Diesmal schreibt er über existierende Technik und selten gelingen ihm skurrile oder anschauliche Bilder, statt dessen verliert er sich allzu oft in arg detaillierten Handbuchauszügen.

Daneben stellen sich Schwierigkeiten mit der Konstruktion ein. Seitenweise wird im Mittelteil die Technik des Van-Eck-Phreakings (Abhören des Bildschirms) beschrieben. Sinn und Zweck der Übung offenbaren sich jedoch erst gegen Ende des Buches: Waterhouse möchte im Gefängnis seinen Laptop lieber nicht benutzen und kommuniziert mit seinem Zellennachbarn mittels eines Patience-Spiels. (Dessen kryptographischer Algorithmus wurde extra von Bruce Schneier entworfen.)

Sich kurz zu fassen, war Stephensons Sache bislang schon nicht. Im »Cryptonomicon« gerät er nun nicht nur über technische Details ins Stolpern. Der möglicherweise flott und spannend erzählbare Aufbau einer Datenoase zerbröselt unter den Ambitionen des Autors. Nicht nur die Anwendung von Verschlüsselungsmethoden soll beschrieben werden, sondern auch die Geschichte der Kryptographie. Also unterbricht er den Verlauf der zeitgenössischen Handlung durch zwei parallele Erzählstränge.

Der Entwurf sicherer Chiffren und das Brechen der feindlichen im zweiten Weltkrieg durch - so ein Zufall - Lawrence Waterhouse, Großvater der Hauptperson, spielen die zentrale Rolle im zweiten Strang. Die Kriegsabenteuer des Marines Robert Shaftoe im Auftrag der Gegenaufklärung erzählt er im Dritten. Auch Shaftoe firmiert als Großvater und überhaupt hängt in diesem Buch vieles zusammen.

»Cryptonomicon« erinnert an die Kolportage des 19. Jahrhunderts. Hätte Stephenson bei Eugène Sue und Charles Dickens studieren sollen, wie Fortsetzungsromane die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln können? Der Klappentext kündigt das Buch als ersten Band an. Vielleicht kann er die Erwartungen eines Romans entlang aktueller Entwicklungen ja doch noch erfüllen.

Neal Stephenson
Cryptonomicon
918 Seiten
Avon Books
ISBN: 0380973464
http://www.cryptonomicon.com/