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2.1. Das soziale Paradox der Technik

 

Technische Neuerungen werden nicht nur von Prophezeiungen begleitet: Mit der Entdeckung des Internet durch die Medien wurde die Informationsrevolution proklamiert. Standesgemäß für eine Revolution wurde auch gleich ein neues soziales Wesen aus der Taufe gehoben - der ,,Netizen``. Netizens sollen Mitglieder einer Gemeinschaft sein, die das weltweite Computernetz zur elektronischen Kommunikation benutzen. Netizens haben den Wert dieser Kommunikationsmöglichkeiten verstanden und ,,contribute to the growth and collaborative community of the Net.``(21) Der Erfinder des Begriffs, Hauben, unterstreicht die hier noch implizite Abgrenzung des Netizen von den übrigen Netznutzern an anderer Stelle: Nicht jeder, der in Nachrichtengruppen nur mitliest oder eine Seite im World Wide Web unterhält, ist ein Netizen. ,,Rather they are people who understand it takes effort and action on each and everyone's part to make the Net a regenerative and vibrant community and resource.``(22) Im Gegensatz zu anderen Begriffen übersetze ich ,,Netizen`` nicht, weil das Wortspiel sich nicht übertragen läßt. Hauben betont, daß er die ursprünglich verbreitete Bezeichnung net.citizen zusammengezogen habe, um die geographische oder nationale Konnotation des Wortes ,,citizen`` (Bürger) abzustreifen. ,,Netizen`` soll auf diese Weise eine neue, nicht national bestimmte Mitgliedschaft in einem sozialen Verbund signalisieren. Bei den Netizens handelt es sich dann um eine soziale Gemeinschaft, die über ihr Anliegen, nämlich der Kommunikation über das Netz als solche, definiert wird.

Ob dieser Begriff tatsächlich eine Gruppe beschreibt, und ob ein solches Konzept sinnvoll einsetzbar ist, soll hier nicht erörtert werden. An dieser Stelle soll der Begriff des Netizen der Illustration des Ansatzes des ,,sozialen Paradox' der Technik`` dienen. Demnach werden ,,Technik und neue Technologie, im Sinne kommunikativer Fernkontakte, [...] häufig zu temperamentvoll als ausschließlich integrierende, verbindende Lebenstaktik gesehen.``(23) Dem Ansatz des sozialen Paradox' der Technik zufolge fehlt es solchen Betrachtungsweisen an Rücksicht auf die Möglichkeiten der Abgrenzung, der dieselbe Technik ,,neue Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.``(24) In der Tat bezeichnet der Begriff des Netizen genau den Zwiespalt, der sich aus dem sozialen Gebrauch der Technik ergibt: Mit missionarischem Eifer setzt er jenen den Heiligenschein auf, die das Mittel - die Kommunikation - zu ihrem Zweck machen. Die Anderen verschwinden in der Masse derer, die nur ,,trivial home pages``(25) im World Wide Web unterhalten. Das Konzept des Netizen verklärt die Zusammenarbeit in einer internationalen Gemeinschaft und damit das verbindende Element der Technik. Demgegenüber wird im gleichen Atemzug die Nutzung der Technik aus partikularen Interessen als moralisch zweifelhaft abgewertet.

Der Ansatz des sozialen Paradox' der Technik hat seine Wurzeln in der Tönnies'schen Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft. Kommunikationstechnik unterstützt den Prozeß der Vergesellschaftung, indem sie Gemeinschaften miteinander verbindet. Durch die Verbindung wird die Weltsicht einer Gemeinschaft relativiert, weil sie mit anderen konfrontiert wird. Entgegen der Annahme, daß dieser Prozeß auf lange Sicht zu einer Angleichung unterschiedlicher Gemeinschaften führt, betont das soziale Paradox der Technik die Möglichkeit, daß Gemeinschaften die Technik nutzen, um den eigenen Standpunkt zu wahren. Und nicht nur das: Technik kann einer Gemeinschaft auch dazu dienen, sich entschiedener abzugrenzen und die eigenen partikularen Interessen in der Gesellschaft deutlicher zu vertreten.

Es stellt sich die Frage, wie der Ansatz des sozialen Paradox' illustriert werden kann. Genügt es, das Usenet zu beschreiben und in der Beschreibung jene Phänomene hervorzuheben, die den Ansatz besonders gut verdeutlichen? Die Aufgabe erschöpfte sich dann darin, in der Art eines Fremdenführers Ortsunkundige anhand eines Mottos durch unbekanntes Terrain zu führen: ,,Hier sehen Sie, wie das Usenet verbindend wirkt und an jener Stelle springt die Möglichkeit zur Abgrenzung ins Auge.`` In dieser Form hätte die Arbeit den schwerwiegenden Nachteil, nicht überzeugen zu können, weil sie eine entsprechende Sicht des Usenet allenfalls als möglich erscheinen ließe. Wünschenswert wäre statt dessen ein Vorgehen, welches das soziale Paradox des Usenet einleuchtend hervortreten läßt.

Am einfachsten läßt sich dieses Problem über eine konkrete Fragestellung lösen, die aus dem Ansatz selbst gewonnen wird: Wenn das vereinheitlichende und das trennende Moment der Technik gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden, tritt als ihr Gemeinsames die Grenze hervor, da beide in ihr zusammenfallen. Der Akt der Grenzziehung vereinheitlicht das Eingegrenzte, indem die Gemeinsamkeiten betont und Beziehungen innerhalb der Grenzen hervorgehoben werden. Zugleich ergibt sich mit der Grenzziehung ein Schritt zur Vielfalt, zum Besonderen, weil aus einer diffusen Menge eine Gruppe abgesondert wird, die daraufhin für sich steht. Eine Gruppe betont mit ihrer Konstitution ihre Besonderheit und grenzt sich gegenüber anderen ab. Es scheint daher sinnvoll, die zu beschreibenden Phänomene nicht anhand einer Dichotomie mit den Kategorien verbindend und trennend zu ordnen, sondern das Augenmerk auf die Grenzen zu richten, die im Usenet gezogen werden. Als die Fragen, der die Arbeit nachzugehen hat, ergeben sich dann, ob derartige Grenzen im Usenet existieren und wie sie zustande kommen.

Berührt von der Frage nach den Grenzen ist auch die Existenz von Gruppen im Usenet, und es mag seltsam erscheinen, nicht vorrangig das Innenleben distinkter Gruppen beschreiben zu wollen. Eine Schranke bildet hier jedoch die vorliegende Stichprobe, die höchstens eine beispielhafte Beschreibung zuließe. Die Knappheit des Materials ließe sich durch entsprechende Literatur ergänzen. Hier stellen sich jedoch Probleme ein. Das Etikett ,,virtuelle Gemeinschaft`` bezeichnet Gruppen, die durch Computer-vermittelte Kommunikation entstehen. Die bekannteste Beschreibung einer derartigen Gemeinschaft lieferte Howard Rheingold mit seinem Buch ,,The Virtual Community``, das auch in digitaler Form über das Netz erhältlich ist. Dabei muß als problematisch gelten, daß Ausgangs- und Endpunkt von Rheingolds Beschreibung die Mailbox WELL (Whole Earth 'Lectronic Link) ist. Dem nächsten Abschnitt wird zu entnehmen sein, daß Mailboxen als Medien bestimmte Eigenschaften aufweisen. Aus diesen Eigenschaften ergibt sich unter anderem die Möglichkeit, die Kommunikation, welche über eine Mailbox stattfindet, zu harmonisieren. Im Fall von ,,The WELL`` ist damit ein weiteres Problem verbunden, das der weltanschaulichen Geschlossenheit. ,,The WELL`` hat vorrangig Wurzeln in der Ökologiebewegung mit starken Bindungen an die Ideale der Hippie-Bewegung. Dazu kommen Computer-Begeisterte und Fans der Rockgruppe Grateful Dead.(26) ,,The WELL`` bietet so gesehen einer bereits bestehenden Szene oder Subkultur neue Kommunikationsmöglichkeiten. Aus Rheingolds Vorgehen ergibt sich ein fragwürdiger Maßstab: Allein die Tatsache Computer-vermittelter Kommunikation unter den Mitgliedern einer Subkultur würde sie in eine virtuelle Gemeinschaft transformieren.

Die Eigenschaften eines Mediums nehmen Einfluß auf die Kommunikation, die darüber stattfindet. Wenn das Usenet und eine Mailbox sich tatsächlich deutlich unterscheiden, läßt sich schließen, daß Gruppen im Usenet unter anderen Bedingungen zustande kommen und ihr Fortbestehen anders sichern müssen als dies über das Medium Mailbox der Fall wäre. Der Unterschied wird deutlich, wenn die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, daß in einer Mailbox die Grenze der Gruppe mit der des Mediums zusammenfallen kann. Das Usenet schließt eine solche Möglichkeit aus.

Der Blick richtet sich also weniger auf das Innenleben von Gruppen, als vielmehr auf den Umgang mit den Grenzen: Wie werden sie durchgesetzt und wie werden sie durchbrochen? Die Schwierigkeit, die sich dabei einstellt, besteht in der Trennung von Verhaltensweisen, die Eigenheiten des Mediums berücksichtigen und solchen, die auf die Gruppe Bezug nehmen. Was bedeutet es z.B., wenn der Betreff eines Artikels den Gepflogenheiten einer Nachrichtengruppe entsprechend und nicht nach eigenem Gutdünken formuliert wird? Kann diese Rücksicht als Indiz für die Existenz einer bestimmten Gruppe gewertet werden (27), oder wird damit eher der Besonderheit des Mediums begegnet?

So gesehen verbietet sich das Vorgehen in der Art eines Fremdenführers sogar, weil entsprechende Unterschiede erst hergestellt werden müssen. Um den Ansatz des sozialen Paradox' der Technik illustrieren zu können, muß in drei Schritten ein Fundament geschaffen werden. Zuerst müssen die Eigentümlichkeiten des Usenet als Medium zur Sprache gebracht werden. Zusammen mit den detaillierten Darstellungen der einzelnen Nachrichtengruppen bilden sie dann eine Grundlage für die Differenzierungen, die in Kapitel 4 entwickelt werden. Dort können dann Fragen nach Ab- und Eingrenzung beantwortet werden. Dabei wird sich zeigen, daß das Usenet trotz seiner Beschränkung auf Texte Grenzen verschiedener Art ermöglicht und zum Teil erforderlich macht. Hierauf aufbauend wird es möglich sein das soziale Paradox der Technik am Usenet zu veranschaulichen.


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