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4.3. Sender = Empfänger

 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen herkömmlichen Massenmedien und dem Usenet wird im Verhältnis von Sendern und Empfängern sichtbar. Mittels einer Gegenüberstellung beider Medienarten lassen sich verschiedene Charakteristika des Usenet hervorheben. Dabei wird sich zeigen, daß insbesondere die Rolle des Empfängers eine Wandlung erfährt. Die Orientierungsmöglichkeiten, die herkömmliche Massenmedien den Rezipienten an die Hand geben, entfallen, und die Empfänger sind gezwungen, eine aktive Rolle zu übernehmen. Dem in dieser Vorgehensweise angelegten Vergleich des Usenet mit herkömmlichen Massenmedien soll nicht nachgegangen werden, weil er undurchführbar ist. Er scheiterte spätestens in dem Moment, in dem die Trennung von Sendern und Empfängern sich als ein für das Usenet unbrauchbares Konstrukt erweist. Vorläufig soll die Trennung beibehalten werden, weil sie als gliederndes Element brauchbar ist. Um die Gegenüberstellung nicht ausufern zu lassen, sollen sowohl die Massenmedien als auch das Usenet verkürzt als Informationen übermittelnde Medien betrachtet werden.

Die Topologie des Kommunikationsnetzes, welches über das Usenet aufgespannt wird (s. Abschnitt 2.2.5), gestaltet das Verhältnis von Sendern zu Empfängern in einer Weise, die bei herkömmlichen Massenmedien nicht anzutreffen ist. Da die Massenmedien Aussagen immer nur in eine Richtung vermitteln, kann die dabei entstehende Gesprächsform als ein Monolog bezeichnet werden. Den Empfängern steht nicht der gleiche Kanal zur Verfügung, über den sie Einfluß auf das Gespräch nehmen könnten. Harisim setzt für das Netz den Begriff ,,Multilog``(129) ein, um den Gegensatz zu bekannten mediierten Gesprächsformen hervorzuheben. Im Multilog des Usenet steht es den Empfängern frei, über den selben Kanal auf eine Mitteilung zu reagieren und somit als Sender aufzutreten. Dabei treten im Kanal Veränderungen auf, die nicht nur seinen Inhalt betreffen.

Eine bemerkenswerte Differenz stellt sich auch unter einem anderen Gesichtspunkt ein. Massenmedien sind durch eine Knappheit bestimmter Ressourcen zur Auswahl von Informationen gezwungen. Synchrone Medien, wie Rundfunk und Fernsehen, sind an einen zeitlichen Rahmen gebunden, innerhalb dessen Informationen übermittelt werden können. Im asynchronen Medium Zeitung ergibt sich aus dem verfügbaren Platz eine Einschränkung für die Menge der ausgewählten Informationen. Mit den Grenzen, die durch die Ressourcen gezogen werden, entsteht Überschaubarkeit. Ein Mangel an Ressourcen ist im Usenet kaum spürbar. Die zeitliche Beschränkung der synchronen Medien entfällt - das Usenet funktioniert asynchron -, und ein Mangel an Platz macht sich höchstens an einzelnen Punkten, nicht jedoch im ganzen Netz bemerkbar. Bestimmend für Auswahl und Aufarbeitung von Informationen wirkt sich dann nur die Zeit aus, die Autoren willens sind zu investieren.

Die Behauptung, daß ,,die Auswahl, Aufarbeitung und Bereitstellung von Informationen [...] in unserer Gesellschaft die Aufgaben des Journalismus``(130) seien, wird durch das Usenet ad absurdum geführt. Mit der Auswahl von Informationen geht deren Hierarchisierung von wesentlich zu unwesentlich einher. Mit der Aufarbeitung fällt nicht nur die Entscheidung über die Art ihrer Präsentation sondern auch über ihre Einordnung. Informationen können Eingang in einen Kommentar, eine Reportage oder eine Glosse finden. Indem sie in einen bestimmten Kontext, z.B. Politik, Wissenschaft oder Kultur, eingebettet werden, wird über ihre Einordnung entschieden. Die Bereitstellung von Informationen geschieht über ein komplexes Vertriebssystem, dessen Betrieb zum Teil erhebliche Kosten verursacht.

In zweien der drei Punkte lassen sich keine wesentlichen Unterschiede zur Veröffentlichung auf dem Usenet erkennen. Sender wählen Informationen aus, arbeiten sie in einer bestimmten Form auf und wählen mit der Nachrichtengruppe einen bestimmten Kontext. Oberflächlich betrachtet ließe sich anfügen, daß sie ebenfalls ein komplexes Vertriebssystem zur Verbreitung der Informationen nutzen. An diesem Punkt tritt jedoch eine entscheidende Veränderung auf. Im Fall der Massenmedien fallen Sender und Verteiler mehr oder weniger zusammen. Im Usenet ist das nur bedingt der Fall. Die Sender benutzen hier ein Medium, auf das sie, wenn überhaupt, nur punktuell Einfluß haben. Die Argumentation unterscheidet sich hier nicht wesentlich von der in Abschnitt 2.2.5 vorgenommenen Abgrenzung des Usenet gegenüber anderen Medien des Internet. Daher braucht sie hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Die mögliche Trennung von Sender und Verteiler im Usenet wirkt sich im Zusammenspiel mit der dezentralen Struktur des Netzwerks noch weiter aus. Zwar verursacht das Netz als Vertriebssystem insgesamt beträchtliche Kosten, in den einzelnen Knoten jedoch bleiben sie in einem überschaubaren Rahmen, weil der Betrieb des Mediums insgesamt nicht an den einzelnen Sender gekoppelt ist. Damit ermöglicht das Usenet die Existenz einer Unzahl von Sendern.

Auf Seiten der Empfänger stellt sich damit die erste gravierende Veränderung ein, die die Leser im Usenet von den Rezipienten eines Massenmediums unterscheidet. Anstatt eines klar identifizierbaren Senders sehen sich die Leser einer schwer überschaubaren Menge von Sendern gegenüber. Begleitet wird diese Menge von einem Spektrum unterschiedlichster Standpunkte. Hinzu kommt, daß über die weltweite Verbreitung des Usenet unterschiedliche, kulturell bestimmte Prämissen eingang in einen Kanal finden können. Der Gegensatz wird deutlich, wenn Bourdieu das Verhältnis von Zeitungen und ihren Lesern als eines charakterisiert, das weniger von der ,,vollständige[n] Übereinstimmung mit der deklarierten politischen Position ihrer Zeitung``(131) abhängt, als vielmehr von deren breitem Angebot. Auf das breite Angebot komme ich unten noch zurück. Hier kann festgehalten werden, daß Nachrichtengruppen als Kanäle, die vielen Sendern offenstehen, nur in Ansätzen eine ,,deklarierte Position`` kennen. Kontext und Konsens mögen zwar eine bestimmte Orientierung nahelegen, aber es steht kein Mittel zur Verfügung, den Kanal für sie zu reservieren.

In soc.culture.egyptian fiel das Phänomen des Spektrums auch in der Herangehensweise an das Thema ,,Frauen im Islam`` auf. Sie war teils wissenschaftlich, teils polemisch, konnte aber auch nur die Form einer Meinungsäußerung annehmen, ohne daß dazwischen klare Grenzen existierten. Der Sinn der Debatte selbst wurde dabei ebenfalls in Frage gestellt. Zwar ist die Versammlung unterschiedlicher Standpunkte zu einem Thema, etwa in Aufsatzsammlungen, Fernsehdiskussionen usw., bekannt, nur existiert in diesen Beispielen immer ein gemeinsamer Nenner. Dieser äußert sich z.B. darin, ein bestimmtes Thema als behandelnswert anzuerkennen, oder darin, es unter Bezug auf eine bestimmte Form des Diskurses zu erörtern, sei es eine wissenschaftliche oder journalistische Form oder die einer Kneipendiskussion. Da Autoren im Usenet keinen Beschränkungen außer den eigenen unterliegen, ist erlaubt, was gefällt. Die Orientierungshilfen, welche die Massenmedien bereitstellen, angefangen bei der Trennung von Information und ihrer Bewertung bis hin zur Deklaration der Präsentationsart (Reportage, Kommentar usw.), sind im Usenet selten gegeben. Eine entsprechende Einordnung muß daher von den Lesern vorgenommen werden.

Mitunter muß auch die Zuordnung von Informationen zu einer Kategorie von den Lesern geleistet werden. Die Autoren in alt.culture.bullfight widmeten sich fast ausschließlich dem Stierkampf und gaben Aufschluß sowohl über aktuelle Ereignisse als auch historische Entwicklungen. Andererseits nutzten die Artikel in soc.culture.egyptian den vorgegebenen Rahmen, sowohl Kultur und Politik als auch sportliche Ereignisse darin unterzubringen. Der Einfluß eines möglicherweise unzureichend abgesteckten Rahmens auf den Kontext einer Nachrichtengruppe muß dann vom Leser aufgefangen werden.

Durch die beständige Veränderung einer Nachrichtengruppe - alte Artikel werden gelöscht, neue kommen hinzu, gelesene werden nicht mehr angezeigt - werden Nachrichtengruppen auch zu einem Kaleidoskop. Allerdings verkürzt die Metapher das Phänomen: Nicht nur, daß die Scherben des Kaleidoskops ihre Position zueinander wechseln, sie unterliegen dabei auch noch einem stetigen Austausch. Trotzdem erscheint mir die Metapher sinnvoll, weil sie darauf hinweist, daß die Leser gezwungen sind, die Mitteilungen zu einem Muster zu fixieren. Die Nachrichtenprogramme unterstützen diese Bemühung nur unvollständig, indem sie den Bezug der Mitteilungen untereinander darstellen. Dem Leser fällt die Aufgabe zu, zwischen Artikeln zu unterscheiden, die beim Thema bleiben und solchen, die abschweifen. Das schönste Beispiel für eine Abschweifung dürfte in alt.vampyres zu finden sein: Die Diskussion um die Bewertungsskala für Neulinge artet kurzfristig in das kurz angesprochene Versteckspiel aus (s. dort).

Der letzte Umstand, der in dieser Gegenüberstellung von Usenet und Massenmedien angesprochen werden soll, kann in der Dichotomie horizontal und vertikal gefaßt werden. Massenmedien wie die oben angesprochene Zeitung bieten ein relativ breites Angebot an Informationen. Sie decken unter Umständen mehrere Themenbereiche ab; diese Streuung kann als horizontal bezeichnet werden. Das Angebot der Massenmedien muß als ,,relativ`` breit qualifiziert werden, weil der Begriff auch eine mögliche Spezialisierung, etwa im Fall von Spartenkanälen, einschließen soll. Nachrichtengruppen kanalisieren ihre Thematik vergleichsweise sehr viel stärker. Dabei kann ein vertikaler Informationsraum entstehen, der, z.B. bei den FAQs, ein Sachgebiet in einer Weise ausschöpft, die im Bereich der Massenmedien unbekannt ist.

Zur Begründung dieses Phänomens kann zum einen erneut auf den Unterschied zwischen mangelnden und ausreichenden Ressourcen verwiesen werden: Ausführliche Darstellungen eines Sachverhalts erfordern Zeit bzw. Raum. Zum anderen offenbart sich an dieser Stelle ein bemerkenswerter Gegensatz. Massenmedien müssen als gewinnorientierte Wirtschaftsunternehmen ein breites Publikum ansprechen. Sie erreichen diesen Zweck, indem sie sich nicht auf ein schmales Interessengebiet beschränken. Im Usenet dagegen ist die Tendenz zur Kanalisierung von Themen nicht durch die Rücksicht auf einen möglichst großen Empfängerkreis motiviert. Wesentlich dürfte hier die Überschaubarkeit einer Nachrichtengruppe sein, die vor allem von der Anzahl der Artikel abhängt.

Über die Metaphern des Spektrums und des Kaleidoskops konnte in der Gegenüberstellung von Usenet und Massenmedien gezeigt werden, daß die Situation der Empfänger sich verändert. Das Entfallen der herkömmlichen Orientierungsmuster verweist darauf, daß es für die Empfänger zu einer Notwendigkeit wird, sich selbst eine Übersicht zu verschaffen. Die Diskussionen um eine Kanalisierung von Themen machen dieses Bemühen augenfällig. Die Debatten in alt.vampyres und soc.culture.egyptian über eine Änderung des Gruppenstatus' einerseits oder die Verlagerung ägyptologischer Themen in eine eigene Nachrichtengruppe andererseits illustrieren das Phänomen. Die jeweiligen Nachrichtengruppen schienen durch das Überhandnehmen themenfremder oder thematisch unpassender Artikel unleserlich zu werden. Daraufhin äußerten sich die Autoren selber als Leser, um über den Einsatz des Fehlerprotokolls das Signal-Rausch-Verhältnis im betroffenen Kanal wieder zu vergrößern. An dieser Stelle läßt sich die Trennung von Sendern und Empfängern, wie sie für die Massenmedien möglich ist, nicht mehr aufrecht erhalten.

Die Kanalisierung von Themen stellt nur eine, wenn auch die auffälligste, Form dar, Übersichtlichkeit und damit Orientierungsmöglichkeiten zu schaffen. Ein anderes Hilfsmittel, das Auswirkung auf die Nachrichtengruppe hat, beschreibt Baym anhand des Beispiels rec.arts.tv.soaps. Die Autoren in der Nachrichtengruppe halten sich an die Konvention, den Titel der jeweiligen Seifenoper, zu der sie sich äußern, als Kurzform am Anfang der Betreffzeile mit aufzunehmen. Der Artikel wird deklariert. ,,This rule of netiquette, more than any other on r.a.t.s., is systematically enforced.``(132) Baym fährt fort, daß die Verletzung dieser Norm zu öffentlicher oder privater Züchtigung führen kann. Auf diese Beobachtung baut sie ihr Argument, daß die Gemeinschaft, die sich über die Nachrichtengruppe konstituiert, sich hier Geltung verschafft. Unter dem Blickwinkel, Nachrichtengruppen als Kanäle eines Mediums anzusehen, fördert ein Blick auf die Statistik zutage, daß das Thema Seifenoper, ähnlich wie alt.vampyres, eine Unmenge Artikel anzieht.(133) Damit wird der Schluß nahegelegt, daß es hier eher um die Übersichtlichkeit des Kanals geht, als um den Ausdruck einer Gemeinschaft. Diese Behauptung steht hier noch auf schwachen Beinen, kann aber weiter unten verstärkt werden.

Die Verwendung von Filtern wurde in der Auseinandersetzung um den Status von alt.vampyres angesprochen. Die Nachrichtenprogramme stellen dazu zwei Mechanismen bereit. Ursprünglich diente das ,,Killfile`` zur Aufnahme bestimmter Zeichenketten oder Muster. Das Programm liest beim Start die Datei und zeigt Artikel, die eingetragene Zeichenketten oder Muster enthalten, nicht mehr an. Fast synonym wird der Begriff des ,,Scorefile`` verwendet. Allerdings erlaubt letzteres auch eine positive Wertung: Artikel, die bestimmte Zeichenketten enthalten, kann das Programm hervorheben. Die Gestaltung der Dateien bleibt allein dem Nutzer überlassen. Einträge können in den Namen bestimmter Autoren oder Themen bestehen. Über diese Dateien können Artikel aber auch z.B. auf ihren Verbreitungsgrad untersucht und die Anzeige unterdrückt werden, wenn ein Artikel scheinbar in zu vielen Nachrichtengruppen gleichzeitig erscheint. Je nach Programm kann dieser Filter für alle Nachrichtengruppen gelten, aber auch auf eine spezielle Gruppe zugeschnitten sein.

Bei der Darstellung in der anfangs beschriebenen Art (s. 2.2.2.) werden die Artikel nach Datum, der Zugehörigkeit zu einem Diskussionsstrang und dem Bezug untereinander sortiert. Damit zieht diese Sortierung die Verläufe verschiedener Gespräche nach. Mit dem Einsatz von Kill- oder Scorefile wird diese Ordnung nicht aufgelöst, sondern die Artikel werden nach den persönlichen Präferenzen der Empfänger gesiebt. Zum Beispiel hätte ein Killfile-Eintrag, welcher das Nachrichtenprogramm veranlaßte, die Betreffzeile in soc.culture.egyptian nach ,,Women`` und ,,Islam`` zu untersuchen, zur Folge gehabt, daß 354 Artikel nicht mehr angezeigt worden wären. Die Diskussion wäre auf jene 62 Artikel zusammengeschmolzen, die unter einer geänderten Betreffzeile das gleiche Thema behandeln. An dieser Stelle kann die Argumentation gegen die These von Baym wieder aufgenommen werden. Bei ihr gilt die Rücksicht auf die Gepflogenheit in der Nachrichtengruppe, Artikel zu deklarieren, als Indiz für eine Gemeinschaft. Jedoch hat die Konstruktion der Betreffzeile in r.a.t.s. den vorrangigen Zweck, die Erstellung von Killfiles zu erlauben, die zuverlässig bestimmte Themen filtern können.(134) Da die Anwendung eines solchen Filters auf der individuellen Ebene ansetzt, ergibt sich nur für die jeweiligen Empfänger eine gewisse Übersichtlichkeit; die Nachrichtengruppe bleibt davon unberührt. Da zudem das Thema im Vordergrund steht, tritt der Gedanke einer Gemeinschaft vorerst hinter den Zweck der Orientierung zurück.

Über die Kanalisierung von Themen entsteht für die Empfänger der Zwang, selber mehrere Themenbereiche auszuwählen, um eine Streuung von Informationen zu erreichen. Dem Defizit einer nur punktuellen Informationsquelle können die Nutzer über die Auswahl verschiedener Nachrichtengruppen begegnen. Wie im Fall der Filter geben persönliche Vorlieben den Ausschlag.

Den geschilderten Punkten ist gemeinsam, daß sie der Unübersichtlichkeit, die sich über Spektrum, Kaleidoskop und Kanalisierung im Medium Usenet einstellt, mit Ansätzen zur Orientierung begegnen. Die Zusammenstellung von Nachrichtengruppen und die Verwendung eines Filters funktionieren dabei auf individueller Ebene. Kanalisierung und Deklaration des Artikels wirken sich hingegen auf den Kanal aus. Als wesentlich im Unterschied zu den herkömmlichen Massenmedien muß dabei der Umstand hervorgehoben werden, daß die Empfänger als Sender in die Gestaltung des Mediums eingreifen können.


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